Gut ein Jahr ist vergangen, seit am 25. November die erste der 22 neuen Niederflurbahnen der KVG in Kassel eintraf. Fest auf einem Tieflader vertäut, rollte in den frühen Morgenstunden die Tram Modell Flexity Classic nach ihrer Reise vom sächsischen Bombardier-Werk in Bautzen in den KVG-Betriebshof Wilhelmshöhe ein. Elf der jüngsten Niederflur-Straßenbahnen der KVG fahren jetzt im Liniennetz, die zweite Hälfte folgt im kommenden Jahr. In Kassel fahren dann zu 100 Prozent Niederflurbahnen im Linienbetrieb.
So viel Komfort für Fahrgäste bieten nur wenige deutsche Nahverkehrsunternehmen. Doch aus Sicht der KVG punkten ihre „Jüngsten" vor allem mit maximaler betrieblicher Flexibilität. Alle sind nicht nur im Stadtgebiet, sondern durch ihre Ausstattung für den vereinfachten Betrieb nach der Eisenbahnbau- und Betriebsordnung (EBO) auch auf den Strecken nach Baunatal und durch das Lossetal einsetzbar. Mit 176 Sitz- und Stehplätzen bieten sie mehr Beförderungskapazität als die meisten Bestandsbahnen der KVG: Ein großer Vorteil angesichts steigender Fahrgastzahlen, denn allein im Jahr 2011 nutzten fast 43 Millionen Menschen oder rund 750.000 mehr die blauen Busse und Bahnen. Und: Sie können untereinander gekuppelt werden. So können bei einer Fahrt doppelt so viele Menschen befördert werden ohne dass die Betriebskosten steigen.
Doch die Neuanschaffung hat ihren Preis: Die Investition für die neuen Bahnen von insgesamt rund 55 Millionen Euro reißt eine deutliche Lücke in den Etat der KVG. Wesentlich dafür ist, dass das Unternehmen diese Summe vollständig selbst finanzieren muss. Mit Jahresbeginn 2004 hatte das Land Hessen die bis dahin für den Kauf von Neufahrzeugen im ÖPNV gewährten Zuschüsse von 30 bis 40 Prozent gestrichen. Die KVG war deshalb gezwungen, die Bahnen über einen Kredit zu finanzieren.
„Die 55 Millionen Euro sind für uns schwer zu stemmen. Dennoch war die Entscheidung für die neuen Bahnen die einzig Richtige", erklärt KVG-Vorstandsvorsitzender Andreas Helbig. „Das ist nicht nur unsere gefühlte Überzeugung. Wir investieren nicht solche Summen ohne vollkommen sicher zu sein, dass eine solche Ausgabe auch wirtschaftlich, und zwar über viele Jahre, sinnvoll ist."
Wirtschaftlichkeitsberechnungen der KVG gingen der Bestellung voraus. Diese wurden von externen Gutachtern in allen Punkten bestätigt. Berücksichtigt wurden hier sämtliche Kriterien: Die Kapitalkosten der Investition, die Instandhaltungskosten über die Nutzungsdauer einer Bahn von 25 Jahren sowie technische und qualitative Aspekte.
Die neuen Trams werden die 22 Hochflurbahnen der KVG schrittweise ersetzen. Bisher sind elf dieser Bahnen (N8C) der Jahre 1981 und 1986 abgestellt. Sie werden allerdings betriebsbereit gehalten um sie bei Bedarf, etwa zu Großveranstaltungen, wieder aus dem Depot fahren zu können. Die restlichen werden aus dem Verkehr gezogen je nachdem, wie viele der neuesten KVG-Trams für den Liniendienst einsatzbereit sind.
Andreas Helbig weiß, dass in Kassel viele den Abschied von den Hochflurbahnen bedauern. „Ihr nostalgischer Wert und ihre Robustheit sind unbestritten." Ihr Einstieg über Stufen aber genüge den Ansprüchen der Fahrgäste nicht mehr. Die KVG setzt seit Anfang der 1990-er Jahre auf die Niederflurigkeit: „Hochflurtrams an Niederflurhaltestellen, das ist völlig widersinnig."
Um Kosten zu sparen, hatte die KVG vor dem Kauf der neuen Bahnen geprüft, ob die Hochflurtrams durch den Einbau eines Niederflurteils modernisiert werden könnten. Dieser Plan wurde verworfen vor allem weil die in den vergangenen Jahren deutlich verschärften EU-Normen fast unüberwindbare Hürden für die Neuzulassung der Bahnen aufgebaut haben. „Das hätte etwa dem Prozess entsprochen der notwendig ist, wenn man einen Mittelklasse-Pkw zur Stretchlimousine umbaut. Vielleicht kann sich das ein Privatmann mit einem einzigen Wagen leisten. Aber nicht wir als Nahverkehrsunternehmen und für 22 Fahrzeuge", erklärt Helbig Hintergründe.
Die Sanierung der 22 N8C hätten Kosten von insgesamt rund 30,4 Millionen Euro verschlungen oder im Mittel mehr als 1,38 Millionen Euro je Tram. „Kosten und Nutzen standen in keinem akzeptablen Verhältnis", sagt Helbig. Die Bahnen wären nur höchstens weitere 20 Jahre lang einsatzbereit. Zudem wären sie noch immer nicht traktionsfähig, keine Zweirichter und ohne Klimatisierung. Das endgültige K.O.-Kritierium aber war ein anderes: Die Hochflurtrams bieten jeweils nur 140 Fahrgästen Platz.
Sanierung der ersten Niederflurgeneration
Inbetriebnahme der neuen Bahnen, Ausmustern der Hochflurmodelle - der Schienenfahrzeugpark der KVG gerät kräftig in Bewegung. Zusätzlich angestoßen wird dies durch eine weitere Entscheidung: Die Trams der ersten Niederflurgeneration werden grundlegend saniert. Denn hier gestaltet sich die Wirtschaftlichkeitsberechnung völlig anders: Das so genannte Retrofit der 6NGTW macht ökonomisch mehr Sinn als ihr Ersatz.
Derzeit gehören 25 dieser Bahnen zum Bestand der KVG, 15 davon aus dem Jahr 1991. Diese werden ab dem kommenden Jahr umfassend saniert. Sie werden zwar erst 2016 das Ende ihrer Nutzungsdauer erreichen. Ihre Instandhaltungskosten sind jedoch schon heute unverhältnismäßig hoch. Bei der Frischekur werden je vier Trams parallel aufgearbeitet. Allerdings erfolgt dies in Etappen, dadurch können sie wenigstens zeitweise im Linienverkehr fahren. Die weiteren zehn Niederflurtrams des Baujahres 1994 sind in einem besseren Zustand. Ob sie ebenfalls saniert werden, steht noch nicht fest.
Das Retrofit für die 15 Bahnen wird die KVG teilweise aus Bordmitteln vornehmen anstatt diese Arbeiten vollständig extern zu vergeben. So lassen sich Kosten senken. „Die Wirtschaftlichkeit der Sanierung der 15 Bahnen liegt auf der Hand", sagt Andreas Helbig. Zumal: Diese Bahnen bieten bis zu 180 Fahrgästen Platz, sind bereits niederflurig und können auf der Baunataltrasse eingesetzt werden. Das Retrofit, das im KVG-Betriebshof Wilhelmshöhe über die Bühne gehen soll, wird ihren Weiterbetrieb im Liniendienst bis etwa zum Jahr 2032 sichern.
„Die Entscheidung für die Ausmusterung der 22 Hochflurbahnen, den Kauf von 22 neuen Trams und die Sanierung der 15 Bahnen der ersten Niederflurgeneration folgt wirtschaftlicher und betrieblicher Vernunft. Unsere Ersatzbeschaffung bietet zudem über viele Jahre hinweg die Chance, einer weiter steigenden Nachfrage zu entsprechen. Ohne die neuen Fahrzeuge wären unserer Beförderungskapazitäten bis voraussichtlich 2032 so gut wie zementiert. Mindestens so wichtig ist die deutlich höhere Flexibilität im Fahrbetrieb. Diese Möglichkeit, auf neue Bedingungen flexibel reagieren zu können, zum Beispiel durch das Aneinanderkuppeln von Trams oder den Einsatz auf sämtlichen Strecken, bieten nur die neuen Bahnen", lautet Andreas Helbigs Fazit.
„Vernünftig und zugleich vorausschauend zu handeln, sind wir unseren Fahrgästen schuldig. Und das sind wir auch Kassel schuldig, denn die Stadt will nicht auf der Stelle treten, sondern sich weiterentwickeln. Dazu braucht sie einen ebenso zeitgemäßen wie zukunftsfesten öffentlichen Nahverkehr. Der allerdings hat seinen Preis. "