Stuttgart, Stadt der Tunnel? Zumindest was die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) angeht, scheint es so: 27 Kilometer, rund zwanzig Prozent des gesamten Streckennetzes, verlaufen im Tunnel, fast alle davon liegen auf Stuttgarter Markung. Tunnelbau über 50 Jahre bedeutet auch 50 Jahre Stadtgeschichte, Verkehrsgeschichte, Stadtplanung im Wandel: vom Traum der autogerechten Stadt zum Leitbild der menschengerechten Siedlung; vom großflächigen Neubau zur kleinteiligen, überschaubaren Quartierentwicklung; vom Ziel der U-Straßenbahn über das Phänomen der vorgeschwebten U-Bahn zum eierlegenden Wollmilchsau Stadtbahn. In dieser Zeit durchlief auch der städtische Schienenverkehr eine fast wundersame Wandlung seiner Gestalt: von der grauen Maus Straßenbahn, dem notwendigen Übel, Getriebene der Autoverkehrsplaner, zum sympathischen Motor der Stadtentwicklung und zum Hoffnungsträger für klimafreundliche und bezahlbare Mobilität.
Entsprechend hat sich auch die Qualität der Tunnelbauten oder vielmehr der Haltestellen verändert: vom nüchternen Tiefbauobjekt zum Stationsbauwerk mit qualitätvollem Niveau und künstlerischem Anspruch. Schon seit den 1970er Jahren gibt es keine Haltestelle der SSB in Tieflage, bei der nicht namhafte Architekten oder gar Künstler beteiligt waren. Wiederholt wurden gar Wettbewerbe ausgelobt.
Am Erfolg der Stadtbahn Stuttgart haben die Tunnel wesentlichen Anteil, ob in der Stadt oder den Vororten. Dabei ist das bis heute verwirklichte Tunnelnetz der SSB um einiges kleiner ausgefallen als an sich geplant gewesen. Ob man Tunnel mag oder nicht: Die Vorteile des Tunnels für den Verkehr, namentlich für die Schiene, sind unbestritten. Das hat schon vor gut 30 und mehr Jahren manche Bürger nicht gehindert, gegen geplante Tunnelbauten der SSB auf die Straße zu gehen: Das gehört ebenso zur Chronik des Tunnelbaues wie die Tatsache, dass dabei nicht alles perfekt geworden ist. Auch die Ingenieure durchliefen einen ständigen Lernprozess, ob bei Technik, Ästhetik oder Politik.
Wer könnte darüber besser berichten wie ein verantwortlicher Tiefbauingenieur? Manfred Müller, Jahrgang 1938, erlebte und gestaltete den Tunnelbau hautnah mit, von seiner Studienzeit an der Universität Stuttgart bis zum Schluss seiner beruflichen Laufbahn, als Chef für die gesamten Gleisanlagen und Tunnelbauwerke der SSB. Wie die Planungen aussahen, was daraus wurde, wie die Bauwerke entstanden und was dabei bemerkenswert war, schildert Müller in seiner jetzt erschienenen Rückschau ebenso sachlich wie freimütig, gewürzt mit mancher Anekdote. Da geht es von der Tunnelpatin, der heiligen Sankt Barbara, bis zur Bezeichnung als „Barbar", die Müller sich in seinem Amt anhören musste. Darüber augenzwinkernd zu lesen, wirkt schlicht menschlich und vertrauenswürdig.
Die SSB als Manfred Müllers ehemaliger Arbeitgeber hat seine Zeilen als stabile Broschüre herausgegeben, vielfältig und oft farbig bebildert. Für viele der Heutigen ist das schon ein Blick in eine andere Welt: Stuttgart über mehr als anderthalb Jahrzehnte als Riesenbaustelle, Umleitungen für Schiene und Straße ohne Ende, die Innenstadt zumindest zeitweise fast ein einziges Loch, Tunnelbaumaschinen wie aus einem Fantasyfilm – und dazwischen die Bürger, die das alles offenbar zwar nicht ganz ohne Klage, aber dennoch recht gefasst oder gar aufgeschlossen hinnahmen, bis hin zur bejubelten Fahrt eines symbolischen „U-Bootes" in der Baugrube.
Um es vorweg zu nehmen: Müllers ungeschminkte Bilanz kommt auf keine Dramatik – fast keine nennenswerten Senkungen oder Rutschungen von Gebäuden, kein eigenwilliger Gipsboden, keine Schäden bei Grund- oder Mineralwasser. „Alles beherrschbar", lautet sein Credo. Dass Stadt und SSB sich den Ruf sorgfältiger und kostentreuer Bauherren erworben haben, klingt dabei durch – warum auch nicht?